Stadtarchivdirektorin Elfriede Schirrmacher
Im Frühjahr des Jahres 1945 drohte die alte Haupt- und Handelsstadt Frankfurt (Oder) vollends zerstört zu werden. Ein Bombardement unmittelbar vor der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee am 23. April und anschließende, wochenlange Brände ließen das seit dem 13. Jahrhundert gewachsene Zentrum der Stadt mit ihren zahlreichen Gebäuden aus der Zeit der Gotik, Renaissance und des Barocks in Schutt und Asche versinken. Was geschah in jenen Tagen mit dem Bestand des Stadtarchivs, das auf Grund der reichen Geschichte der Stadt mit der umfangreichen Urkundenabteilung ab 1287, den Amtsbüchern ab 1425 und den etwa 8.000 Akteneinheiten bis dahin zu den größten Kommunalarchiven der Mark zählte? Der letzte Stadtarchivar Dr. Bruno Binder hatte 1944, wegen der erhöhten Luftgefahr, ohne genaue Unterlagen darüber zu hinterlassen, die Bestände teilweise ausgelagert. Dr. Binder erlebt nicht mehr das Kriegsende und so wird im Dunkeln bleiben, was wohin verlagert wurde. Die Repertorien und neueren Akten, welche anscheinend im Südturm der Marienkirche, wo sich seit 1925 das Stadtarchiv befand, verblieben, wurden ein Opfer des Feuers.
Lange verschollen blieben die großen Mengen Akten, die mit mehreren Lastkraftwagen nach Osten, in den Kreis Krossen, geschafft wurden. Ein weiterer großer Teil des Bestandes war in den Panzerraum des Rathauses gebracht. Im April des Jahres 1945 wurde der Panzerraum aufgebrochen, die Wertfächer geplündert, niemand dachte jedoch daran, die sich im Raum befindlichen Archivalien zu bergen. Sogar noch Anfang 1946, als Kinder mit kostbaren Urkunden als „Beutegut“ in die Schule kamen, geschah nichts.
Mitte 1946 gab die Provinzialverwaltung der Stadtverwaltung den Auftrag, die Akten der einstigen Regierung Frankfurt (Oder) sowie des Amts- und Landgerichtes zu bergen. Für diese Aufgabe griff die Stadtverwaltung auf die Bibliothekarin Elfriede Schirrmacher zurück, welche knapp ein halbes Jahr nach der Einnahme der Stadt schon wieder nach Frankfurt zurückgekehrt war und sich um die Wiedereinstellung bei der Stadtverwaltung beworben hatte.
Die am 30. Oktober 1894 in Kiel als Tochter eines kaiserlichen Marineoffiziers geborene Elfriede Schirrmacher lebte schon seit 1903 in der Oderstadt. Am 27. Oktober 1916 bewarb sie sich auf eine Anzeige in der „Frankfurter Oder-Zeitung“ um die Beschäftigung in der städtischen Lesehalle. Felix Plage, der Direktor der städtischen Büchereien und Archive, ermöglichte ihr, als Hilfsarbeiterin gegen eine monatliche Entschädigung von M 30 bei der städtischen Bücherei einzutreten, um dort bei den Katalogarbeiten beschäftigt zu werden. Ihr wurde zugesichert, dass sie sich auch in den anderen Teilen der Büchereikunde ausbilden kann und ein Zeugnis über ihre Tätigkeit erhalten sollte. Schon ein Jahr nach ihrem Eintritt als Volontärin in die Stadtbücherei wurde sie als Angestellte und 1927 in das Dauerangestelltenverhältnis übernommen. Da ihr der Besuch einer Berufsfachschule nicht möglich war, bildete sie sich autodidaktisch weiter, lernte Latein und anderes, was sie für ihre Arbeit brauchte. Nach und nach wurden ihr von Felix Plage und seinem Nachfolger Dr. Franz Schriewer, wichtige, eigenständige Aufgaben übertragen. Ab 1923 betreute sie unter anderem auch die Kleistbücherei der Kleist-Gesellschaft. Darüber hinaus baute sie von 1940 an eine besondere wissenschaftlich-heimatkundliche Abteilung in der Stadtbücherei auf. Unter Zusammenfassung der alten Archivbibliothek, der Ratsbücherei und anderer Bibliotheken und ausgedehnten antiquarischen Ankäufen entstand ein wertvoller stadt- und universitätsgeschichtlicher Spezialbestand von fast 20.000 Bänden. Am Ende des Krieges musste sie im Zuge der Zwangsevakuierung die zur Festung bestimmte Stadt Frankfurt verlassen. Von Neuruppin aus, wo Elfriede Schirrmacher zwei Monate beim Aufbau der dortigen Bibliothek beschäftigt war, kam sie im Oktober 1945 wieder nach Frankfurt zurück. Mit ihrer Annahme zur Rettung der Archivalien hatte die Verwaltung eine Kraft gefunden, die sich aus innerer Überzeugung dieser Aufgabe stellte.
Sie beließ es jedoch nicht nur bei den staatlichen Akten, sondern dehnte die Bergung sogleich auch auf das zerstörte Rathaus aus. Am Ende der Bergungsarbeiten im Rathaus stieß sie im Saferaum durch einen engen Mauerdurchbruch auf den ältesten Teil des Stadtarchivs. Er lag, wie sie später schrieb, „unter einem Berg von Trümmern, Schutt, Scherben, Asche und Überresten aller Art....Hier war ein ganzes Jahr viel Volks ein- und ausgegangen und hatte unter dem Druck der allgemeinen Not der ersten Monate Feuerungsmaterial für Öfen und Herde körbeweis herausgeholt.“ Obwohl die Bergungsarbeiten längst nicht erledigt waren, wurde im November 1946 der Bergungstrupp aufgelöst und dessen Mitglieder entlassen. Da die Provinzialverwaltung keine weiteren Zahlungen leistete, mussten die Arbeiten vorerst eingestellt werden.
Durch ihre Bergungsarbeit rettete sie eine große Zahl Frankfurter Archivalien vor der endgültigen Vernichtung. Die Regierungsakten wurden ungezählt nach Potsdam gebracht, wo sie heute im Brandenburgischen Landeshauptarchiv der Forschung zur Verfügung stehen. Später sollte sich herausstellen, dass nicht alle von ihren geborgenen 12.721 Akteneinheiten städtischer Provenienz endgültig gerettet waren. Besonders die in die Garage des provisorischen Rathauses (Logengebäude) gebrachten Akten wurden dort noch zum Teil verheizt!
Auf Drängen von Elfriede Schirrmacher beabsichtigte das städtische Kulturamt im August 1947 dann endlich den Wiederaufbau des Stadtarchivs. Zu dieser Zeit lagerte „das unersetzliche, heimatkundliche und stadtgeschichtliche Material, welches nach dem Chaos von 1945 noch geborgen wurde... an verschiedenen Stellen und muss gereinigt, geordnet und erfasst werden“. Das Kulturamt konnte keine der „laufend eingehenden Anfragen aus anderen Städten, in denen die Archive bereits wieder stehen und arbeiten“ beantworten, da hier „jede Übersicht über das noch restlich vorhandene Material fehlt.“ Obwohl Elfriede Schirrmacher für diese Aufgabe hier, wie es hieß, „die bestvertraute und einzige Fachkraft“ war, wurde sie wegen ihrer einstigen, wenn auch späten Mitgliedschaft in der NSDAP vorerst nicht eingestellt. Es bedurfte erst ihrer „Entnazifizierung“. Am 14. Januar 1948 beschloss die „Entnazifizierungskommission des Stadtkreises Frankfurt (Oder)“, dass ihre nur nominelle Parteimitgliedschaft nicht die Entfernung aus dem öffentlichen Dienst rechtfertigte. Damit stand ihrer Einstellung nichts mehr im Wege und sie begann mit Wirkung vom 1. Mai 1948 mit dem Aufbau des Stadtarchivs. Dieser Berufsabschnitt als Stadtarchivarin sollte bis zum Jahr 1976 reichen.
Für das aufzubauende Archiv erhielt sie im Gebäude des ehemaligen Wehrbezirkskommandos, Halbe Stadt 14 a, - im Gebäude befand sich von 1911 bis 1923 die Woltersdorffsche Privatmädchenschule – einige Räume. Hier sollten die Archivalien zusammengeführt und gereinigt werden. Die dorthin gebrachten Restbestände wurden mehrere Monate mit weichen Lappen und Handfegern gesäubert. „Oft musste Blatt für Blatt mit größter Vorsicht aus einer verhärteten Schicht von Schmutz... herausgelöst werden.“ Es bedurfte, wie sie später schrieb, ihre ganze Überredungskunst, die Frauen, die mit ihr diese Arbeiten verrichteten, "bei guter Laune zu halten und ihnen klar zu machen, dass ihre Arbeit wichtig sei und nicht mühseliger als die der Trümmerfrauen, die draußen Stein für Stein putzen.“ Viele Stücke bedurften zu ihrer Rettung einer aufwendigeren restauratorische Behandlung. In den Folgejahren erreichte Elfriede Schirrmacher – oft auch am städtischen Haushalt vorbei - dass manches kostbare Stück durch die Restaurationsabteilungen der Öffentlichen Wissenschaftlichen Bibliothek, der Staatlichen Museen zu Berlin und später auch der Staatlichen Archivverwaltung der DDR gerettet wurde.
Bei den ersten Säuberungsarbeiten im Haus in der Halben Stadt stellte sich heraus, dass sämtliche Repertorien und Hilfsmittel verloren, viele Akten auseinander gerissen und ihre Einbände mit den Signaturen nicht mehr vorhanden waren. Es erwies sich bald als notwendig, den gesamten Bestand vollständig neu zu bearbeiten. Das dafür notwendige archivarische Fachwissen wollte sie sich kurzfristig durch eine Teilnahme an einem Fachkurs erwerben. Da zu dieser Zeit noch keine Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt wurden, wie eine Anfrage bei dem damaligen Berliner Hauptarchiv (Preußisches Geheimes Staatsarchiv) in Berlin-Dahlem, ergab, absolvierte sie dort im August/ September 1948 ein Praktikum. Drei Jahre später unterzog sie sich noch einer Fachprüfung. Die inzwischen erlassene Anordnung zur Errichtung von Stadt- und Kreisarchiven vom 26. Februar 1951 forderte, dass für die Archive Angestellte zu bestellen sind, die wissenschaftlich oder archivtechnisch vorgebildet sein müssen. Leiter größerer Archive sollten eine den staatlichen Archivaren gleiche Ausbildung nachweisen oder entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Am 22. Oktober1951 unterzog sie sich dieser Prüfung für Diplomarchivare im damaligen Deutschen Zentralarchiv in Potsdam und legte ihr Examen mit dem Gesamtprädikat „Sehr gut“ ab.
Im Laufe der Zeit lichtete sich das Chaos im Stadtarchiv. Elfriede Schirrmacher konnte mit der seit 1950 fest angestellten Hilfskraft Margarete Bogula den Bestand neu ordnen und verzeichnen. Eine erste Bilanz gab E. Schirrmacher in ihrer zur Diplomarchivars-Prüfung eingereichten schriftlichen Hausarbeit „Wiederaufbauarbeit im Stadtarchiv Frankfurt-Oder“, welche auch eine neue Gliederung des Gesamtbestandes in 18 Gruppen enthält.
Wegen der großen Lücken im Bestand des Stadtarchivs, bemühte sie sich schon frühzeitig um die Übertragung der geretteten, einst von ihr aufgebauten heimatwissenschaftlichen Abteilung der Stadtbibliothek an das Archiv. Selbst der ehemalige Direktor der Bibliothek Dr. Schriewer, inzwischen in Flensburg bei der dortigen Landesbibliothek beschäftigt, riet 1949 zur Vereinigung dieser Altbestände mit dem Stadtarchiv. In einem in ihrem Nachlass überlieferten Brief vom 22.Juli 1949 schrieb er dazu: „Die Berechtigung liegt ja auch darin, dass heute die Büchereiverhältnisse in Ffo ganz andere geworden sind, indem die wissenschaftliche Seite zurückgetreten ist. Auf der anderen Seite braucht das dezimierte Archiv eine Abrundung, damit es auf sinnvolle Fülle kommt.“ 1951 beschloss der Frankfurter Rat den Ausbau des Archivs zur historischen Forschungsstätte der Stadt, indem das Stadtarchiv die historische Bildsammlung der Stadt und die heimatwissenschaftliche Abteilung der Bibliothek übernehmen sollte. Mit der Übernahme dieser Bestände wurden die Räume in der Halben Stadt zu klein. Das Stadtarchiv benötigte mehr Platz und konnte 1952 in das gegenüber dem Rathaus gelegene Haus der Stadtbücherei einziehen.
1953 beging die Stadt Frankfurt (Oder) ihre 700-Jahr-Feier. E. Schirrmacher bereitete dafür die Herausgabe einer wissenschaftlichen Festschrift vor. Doch statt dem von ihr in Gemeinschaft mit Lotte Knabe, Erich Benisch und anderen Autoren bearbeiteten Festbuches erschien dann 1953 nur ein von der Kreisleitung der SED organisiertes dünnes Bändchen. Ein anderes Jahrfeierprojekt konnte sie dagegen ungehindert durchsetzen. Am 12. Juli 1953 erfolgte im Stadtarchiv die feierliche Einweihung einer Kleist-Gedenkstätte. Der Schriftsteller Walter Victor hielt die Festrede. E. Schirrmacher, schon seit ihrer Jugend mit dem großen Sohn der Stadt, Heinrich von Kleist vertraut, war führend am Aufbau dieser Gedenkstätte beteiligt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Gedenkstätte zu einer Forschungsstätte, welche bis 1963 unter ihrer Leitung stand. 1969 zog die Kleist- Gedenk- und Forschungsstätte, wie sie inzwischen hieß, in das rekonstruierte Gebäude der ehemaligen Garnisonschule und erhielt damit ein eigenes Haus.
Im Januar 1962 kam dann endlich ein Teil des längst verloren geglaubten Frankfurter Archivgutes zurück. 355 Pakete mit etwa 62 lfm Amtsbüchern (ab 1569) und Akten der alten Bestandsabteilung Gericht, 1944 nach Osten ausgelagert, kamen aus Polen zurück. Auch hier waren die Registraturmerkmale und Signaturen weitgehend verloren, 5 lfm Einzelblätter und Protokollteile machten eine völlige Neubearbeitung notwendig. Mit diesem Zugang und seiner folgenden Bearbeitung war der historische Bestand weitgehend formiert. Später kamen nur noch die Gemeindebestände nach Frankfurt eingemeindeter Ortschaften hinzu. E. Schirrmacher gliederte den Bestand in 25 Abteilungen städtischer Provenienz und in 9 Abteilungen nichtstädtischer Provenienz. Jetzt konnte eine Gesamtübersicht zum historischen Bestand gegeben werden. Nach jahrelanger Vorbereitung erschien 1972 diese Bestandsübersicht. Mit der 180 Seiten starken Schrift zog Elfriede Schirrmacher Bilanz einer langen und erfolgreichen Archivarbeit. Der Rat der Stadt und die Stadtverordnetenversammlung würdigten diese Arbeit und verliehen ihr auf der 2. Tagung der Stadtverordnetenversammlung 1966 den Titel „Stadtarchivdirektorin“.
In ihren letzten Arbeitsjahren konnte sie noch erleben, wie das inzwischen wieder bestehende Raumproblem des Archivs gelöst werden sollte. Der Frankfurter Rat beschloss 1974 für das Stadtarchiv ein eigenes Gebäude auszubauen. Unmittelbar neben der ehemaligen Nikolaikirche – wo 1891 zuerst das Stadtarchiv nach dem Rathausauszug untergebracht war – befindet sich das 1738 bis 1740 von Bauinspektor Hedemann errichtete Doppelhaus, einst Pfarrhäuser der Nikolai – und Garnisonkirche. Der Rat der Stadt kaufte das Gebäude und rekonstruierte es von 1974 bis 1976 für das Stadtarchiv. Während der festlichen Veranstaltung zur Wiedereröffnung des Archivs im neuen Haus im Oktober 1976 wurde Elfriede Schirrmacher in den Ruhestand verabschiedet. Auch nach ihrer Verabschiedung kam sie oft in das Archiv und stand ihrem Nachfolger mit Rat und Tat zur Seite.
Stadtarchivdirektorin i.R. Elfriede Schirrmacher verstarb am 15. November 1978. Es war maßgeblich ihr Verdienst, dass das Frankfurter Stadtarchiv nach den Zerstörungen und Verlusten des Jahres 1945 wiedererstand und heute als Informations- und Dokumentationszentrum zur Geschichte der Stadt und ihrer Bürger eine anerkannte Forschungsstätte ist. Elfriede Schirrmacher stand fast 58 Jahre im Dienst der Stadt Frankfurt und hat sich dabei bedeutende Verdienste um das städtische Archiv- und Bibliothekswesen, die städtische Geschichtsforschung und Geschichtsvermittlung und die Pflege des Andenkens von Heinrich von Kleist erworben.
Ralf-Rüdiger Targiel